2
Nov
2006

Mama ist krank.

Mama ist krank. Ich war sie besuchen, vier Tage in der alten Heimat. Ganz schwach liegt sie im Krankenbett. Draußen vor dem Fenster der Bettelwurf im "Goldenen Herbst", wie es während dieser Tage ununterbrochen aus dem Radio tönt. Sogar ihr Zorn scheint schwächer als sonst.

Der mächtige Zorn der kleinen, energiegeladenen Frau war nur mehr in unserem vorauseilendem Gehorsam zu erahnen. Acht Garnituren Gewand habe ich eingepackt, hektisch am Donnerstag früh um Sechs, nach nur drei Stunden Schlaf. Bereit, mich zwei Mal täglich umzuziehen, wenn ihr was missfallen sollte. Bedacht darauf, gemeinsam erworbene Glanzstücke mit Eigenständigem zu verbinden. Die neuen Stiefel mussten mit, eben erst in Grado erworben und wie sie meinte "in allen Magazinen". Sie, die latente Antisemitin hatte sich immer wie das Paradeexemplar der "jüdischen Muttter" in Paul Watzlawicks "anleitung zum Unglücklichsein" benommen: "Und das andere gefällt dir nicht?"

Magazine will sie keine im Krankenhaus. Zu schwach um bunte Seiten umzublättern und über Fiona zu lästern. Zu schwach um KHG zu verteidigen. "Schön sind die Stiefel, und der Rock?""Hasi&Mausi, 29,90.""Super", stolzer Blick zur Nachbarin. "Und der Body?" "Uralt, 10 Jahre." "Und wieder ganz modern." Die Augen fallen fast zu.

Der Vater, einst mit 1,92 Metern ein Riese im Vergleich zur 1,56 m großen Mutter versucht in seinem Sessel zu verschwinden. Beruhigt ist er, dass die Aufmerksamkeit von ihm abgelenkt ist. Ständig ist er, der ihre geheimen Gesetze nie ganz verstanden hat, besorgt, dass ich irgendein Vergehen an Kleidung und Haaren begehen könnte. Mit seinen Vergehen hat er sich abgefunden. Er der Gesetzestreue hat resigniert gegenüber ihrer Gesetzestafeln. Längst weiß er, dass er fast nichts richtig machen kann.

Sie macht kleine, vorsichtige Schritte am Krankenhausgang. Als ich ein Teenager war – und damals hat das noch so geheißen – ist sie sich ihren Zorn aus dem Leib gegangen, in langen Spaziergängen. Dann kam der Schlaganfall, sie konnte plötzlich nicht mehr allein irgendwo hin rennen. Sie konnte mich nicht mehr in meiner Wohnung im vierten Stock ohne Lift besuchen. Sie war eingesperrt und auf die Hilfe anderer angewiesen. Die steile alte Holzstiege zu Hause hat sie immer noch geschafft. Im Krankenhaus möchte sie keine Stigen steigen.

Papa genießt es mit mir essen zu gehen, Gesprächsthema ist fast ausschließlich die Mutter. Wo auch immer wir sind, ist sie dabei. "Was hätte sie dazu gesagt?", "Was hat sie damit gemeint?", seltener "Wie geht es weiter?" Zu Hause benutzt er kaum Geschirr, den Geschirrspüler schon gar nicht, vor der Dusche legt er Handtücher aus, das Sofa wird zum Fernsehen abgedeckt. Wir trinken ein Bier und einen Grappa und gehen früh schlafen. In meinem alten Kinderzimmer, in dem jetzt eine Pflegerin wohnt, finde ich kaum Schlaf. Die Stiege macht mir Sorgen. Meinen Vorschlag, für ihn zu kochen, lehnt Papa verzweifelt ab. Ich könnte ihre Ordnung stören.

Am Sonntag weint sie weniger als sonst, wenn ich fahre. Draußen vor dem Fenster wartet der Bettelwurf auf meinen ostösterreichischen Mann, der ihn in einer Art archaischem Familienritual nächstes Jahr besteigen soll. Der Vater bringt mich zum Bahnsteig. Ich habe beiden versprochen bald wieder zu kommen. Ich habe ein bisschen Angst vor all dem, was da noch kommt.

Seit Dienstag ist sie zu Hause. Es ist schwierig. "Kommst du bald wieder?"

Goldener Herbst oder schon die ersten Wintertage?
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